Monster:
Nichtmessbares zum
Leben erwecken
05
Die zwei Gestalten der Zeit
Wir haben bereits das Gegenstück zum rein quantitativ bemessenen Geld kennengelernt: die rein qualitativ bewertbare Zeit. Doch wo sind die Bruchstellen und die Verbindungen zwischen Geld und Zeit zu finden? Und wie sieht diese Verbindung aus?
Bevor wir diese Fragen beantworten können, müssen wir uns die beiden unterschiedlichen Gestalten der Zeit anschauen:
- Zeit als Uhrzeit richtet sich nach den Bewegungen der Himmelskörper. Da es sich dabei um physikalische Phänomene handelt, ist sie exakt messbar: Die Drehung der Erde um sich selbst definiert den Tag, die Rotation des Mondes den Monat und der Weg der Erde um die Sonne ein Jahr. Diese sichersten aller menschlichen Beobachtungen ermöglichen es uns, Zeit zu messen, zu strukturieren und einzuteilen. Und diese Messbarkeit macht es möglich, Geld in Form von Arbeit als Tauschmittel für Zeit einzusetzen.
- Zeit als Lebenskraft – sie macht unsere Existenz, unser Potenzial und unsere Seele aus. Diese Form von Zeit ist nicht messbar, sie verläuft relativ und kann zu jeder Sekunde enden. Sie ist die Kraft, die das Schöpferische, das Kreative in uns weckt und uns die Wahrnehmung von Freude und Leid, Schönheit und Trauer, Licht und Dunkelheit ermöglicht.
Die Regelmässigkeiten des Firmaments ermöglichen uns, die eigentlich nicht messbare Zeit einzuteilen und zu vermessen. So entsteht ein Hebel, der Zeit in ihr Gegenteil verwandelt und sie mittels der garantierten Sicherheiten der Astronomie standardisiert. Das Abbild dieser Rationalisierung ist Geld. Geld erlaubt uns, Zeit in Arbeit zu verwandeln und messbar zu belohnen.
Geld ist deshalb tatsächlich das Abbild der getroffenen Entscheidungen und der Voraussetzungen eines Lebens – eine Art Gedächtnis unseres messbaren Daseins. Geld ist das zweitwichtigste Gut unseres Lebens, welches das Wichtigste messbar macht. Und wir glauben dogmatisch daran, dass wir mit dieser Rationalisierung unsere Lebenskraft stärken, die Lebenszeit angenehmer gestalten und durch Beschleunigung verlängern. So kann unsere rationale Gesellschaft die rein qualitative Zeit in ihr Gegenteil verwandeln.
Geld als Messbarmachung von Zeit und als glaubwürdiges Abbild unserer rationalen Existenz – eine geniale Erfindung. Doch wie jedes Spiegelbild ist auch Geld nicht dasselbe wie Zeit. Geld ist das Phantom und Zerrbild der Zeit. Wir lassen uns über Arbeit unsere Zeit abkaufen, um von den unbestrittenen Vorteilen der modernen Kultur und Arbeitsteilung zu profitieren – mit allen Kollateralschäden, die das mit sich bringt. Wir opfern einen Teil unserer Lebenskraft und verwandeln sie in Uhrzeit, indem wir uns am Wunder und Fluch der Zivilisationsentwicklung beteiligen. Wir versuchen mehr Zeit zu «gewinnen», indem wir sie zerstückeln, beschleunigen, vermessen und dann verkaufen.
So hat der Kapitalismus auch die Zeit seinem Paradigma des Wachstums, der Beschleunigung und der Messbarkeit unterworfen. Doch in Zeiten fortschreitender Umweltprobleme, knapper werdender Ressourcen und einer Automatisierung, die die Zukunft der Arbeit generell infrage stellt, sind grundlegende Veränderungen gefragt: Eine lebenswerte Zukunft muss auch den qualitativen Einsatz von Zeit belohnen. Doch wie kommen wir von einer Gesellschaft, die dem Geld nachrennt, zu einer Gesellschaft, die der Zeit nachrennt? Und zwar der Zeit als maximalem möglichem Wert, ja als dem einzig wirklich wertvollen Phänomen auf dieser Welt. Wie strukturieren und interpretieren wir die Zeit und damit das Geld neu, damit Unternehmen den maximalen Anreiz haben, das Leben als solches zu fördern? Wie schaffen wir holistische Unternehmen, für die jeder Stoffwechsel, jede Art von vielfältigem und symbiotischem Leben und jede Art von Lebenszeit das höchste Interesse darstellt? Dies ist die wahre Herausforderung unseres Zeitalters: eine revolutionäre Veränderung und eine neue Art der Innovation in unseren Organisationen zu implementieren, ohne staatlichen Zwang von oben und ohne einengende Ideologie.
Die Form der Zeit, um die es geht und die uns als Lebenskraft geschenkt wird, kann immer nur holistisch betrachtet werden – also sowohl dual («ich» und «die anderen»; «ich habe den Steuerknüppel in der Hand») als auch komplex («ich als Teil einer fragilen Biosphäre», «ich bin von meinem Umfeld und vom Zufall abhängig»). Der Einzelne trifft selbst Entscheidungen und ist zugleich von den Entscheidungen der anderen und vom Zufall abhängig. Aus der Summe der heutigen Entscheidungen entsteht die Zukunft. Schauen wir daher noch einmal auf den Menschen und die Art, wie er Entscheidungen trifft.