Monster:
Nichtmessbares zum
Leben erwecken
11
Gesellschaft, Staaten
und die Blockchain
Sich weiter in die Tasche zu lügen bringt nichts. Der Zusammenbruch oder zumindest die fundamentale Umgestaltung des Sozialstaats in der westlichen Welt ist eine Frage der Zeit. Kosmetische Anpassungen des bestehenden Systems zögern bestenfalls einen grossen Strukturwandel hinaus.
Die Kosten für die sozialen Sicherungssysteme, Altersvorsorge oder das Gesundheitssystem werden in den nächsten Jahren deutlich stärker steigen als die Löhne – und irgendwann wird der Kipppunkt der Finanzierung erreicht sein. Digitalisierung und Automatisierung werden diese Trends noch verschärfen, weil viele Jobs der heutigen Mittelklasse wegrationalisiert werden. Es ist zudem nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu wirtschaftlichen Crashs und Krisen kommt,– zu fragil und vernetzt ist die globale Finanzwelt, als dass nicht irgendwann wieder ein grosser Kreditausfall eintreten und seine ökonomischen Schockwellen um den Erdball schicken wird. Die Politik beteuert zwar unentwegt, auf der Suche «nach neuen Lösungen» zu sein, setzt dabei aber hauptsächlich auf die Herangehensweisen des 20. Jahrhunderts und verstärkt die Tendenzen zur Zentralisierung und Kontrolle ökonomischer Aktivitäten. Und so verharren wir gerade dort in der Komfortzone und in der Angst, wo eigentlich Mut gefragt ist.
Natürlich ist auch Blockchain kein Zaubermittel und nicht frei von Risiken, auch hier wird es zu Turbulenzen und Wertverlusten kommen. Ja bereits heute finanzieren nicht wenige Schlaumeier mit eigenen Coins ihre dubiosen oder nicht sehr vielversprechenden Geschäftsmodelle. Doch bei aller berechtigten Skepsis und Sorge ist es eben doch die Blockchain, die Staaten neue Perspektiven eröffnet und neuartige Steuerungsmöglichkeiten schafft.
Die Blockchain eröffnet Chancen
Schauen wir uns ein paar Beispiele für solche Chancen an:
- Transaktionssteuern in der Blockchain können eine neue und viel nachhaltigere Steuer sein und die wirtschaftlich nachteilige sowie ungerechte Einkommensteuer Schritt für Schritt ersetzen. Auch die sozial und ökonomisch sehr schädlichen Hochgeschwindigkeitsfinanztransaktionen können gezähmt werden.
- Die grossen Probleme der Globalisierung und Digitalisierung können neu strukturiert und gesteuert werden. Blockchain ermöglicht es, Systeme aktiv von unten nach oben zu beeinflussen und die Menschen in einer lokalen und doch international ausgerichteten Gemeinschaft zu verankern. Die Voraussetzungen für ein engeres Zusammenrücken der Menschen sind gegeben. Heutige staatliche Aufgaben werden dann verstärkt in soziale Netzwerke transferiert werden.
- Staaten können auch selbst digitale Währungen ausgeben (mit denen man beispielsweise Steuern zahlen kann), die die Wirtschaft und Gesellschaft aktiv stützen und die Gerechtigkeit zwischen den Bürgern fördern. Mittels Smart Contracts – einer weiteren Form der Blockchain – könnten Regierungen sogar automatisierte Verträge mit den Bürgern abschließen und sie für sozial erwünschtes Verhalten belohnen – oder Staaten können sich selbst Bedingungen für ihre Handlungen stellen. Die Zeit der gebrochenen Wahlversprechen weicht dann einer verpflichtenden Wenn-dann-Regierung.
- Eine digitale Bürgeridentität auf Basis einer Blockchain kann zu massiven Kostensenkungen und deutlicher weniger Bürokratie führen, wodurch überlastete Systeme deutlich entlastet werden. Ausserdem entstehen hier neue Möglichkeiten zur Teilhabe am politischen System. Der stark wachsenden Gruppe enttäuschter und abgehängter Bürger können sich so neue Perspektiven eröffnen. Die stets versprochenen neuen gesellschaftlichen Wege können endlich Realität werden.
Neue Anreizsysteme
Geld ist ein polares Phänomen, das in der Hand des Guten genauso wirkt wie in der Hand des Bösen. Daten und Algorithmen werden die Wertzuschreibungen in der Zukunft entscheidend prägen. Die Unfehlbarkeit des Messbaren ist der Mythos unserer Zeit. Und das hat bereits heute reale Auswirkungen: China arbeitet an der Implementierung eines obligatorischen Social-Scoring-Systems, um die Handlungen der Bürger mit Incentives, kleinen Bestrafungen und sozialen Nudges zu steuern. Regierungen versprechen sich von der Digitalisierung von Wertigkeit eine deutlich effektivere, minimalinvasive Kontrolle und Steuerung der Bürger.
Seien wir nicht naiv: Technologie wird immer dann eingesetzt, wenn sie sich lohnt. Und die Beeinflussung und Lenkung von Menschen ist in jedem Fall ein lohnenswertes Geschäft. Unsere Sehnsüchte, unser Drang zu gefallen, unsere angeborene Tendenz zu Denkfehlern und unser Spieldrang machen uns zu einer steuerbaren Spezies. Daten sind das Geld der Zukunft und intelligente soziale Steuerungssysteme eine Variante des künftigen Finanzsystems.
Die Frage ist deshalb weniger, ob sich monetäre Anreizsysteme durchsetzen, als vielmehr, welche Instanzen diese machtvollen Systeme, diese digitale Superinfrastruktur steuern werden. Wird es ein dezentrales, demokratisches, liberales Netzwerk sein, ein alternativer Geldeinsatz, der die Freiheit und die Potenziale des Menschen ins Zentrum stellt? Oder wird es eine despotische, totalitäre Instanz sein, die unseren Spieltrieb und unser Geltungsbedürfnis ausnützt, um all die kleinen Dinge des Lebens zu überwachen und spielerisch zu lenken – natürlich immer zu unserer eigenen Sicherheit und zum Wohle des Ganzen.
Ein Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts genügt, um zu sehen, dass eine neue Technologie unterschiedliche Arten von Realität gebiert (zum Beispiel Sozialismus, Faschismus und Liberalismus). Doch welche Geschichten, welche Ideen und welche Aspekte der nicht messbaren Seite unserer Welt werden das aufkommende, alle Grenzen sprengende Technologie-Zeitalter erzählerisch umrahmen und interpretieren? Werden es kontrollierende oder befreiende Ideologien sein? Die Wertzuschreibung der Zukunft ist die fundamentale Herausforderung unserer Gesellschaften.
Die Chancen, die für Staat und Wirtschaft durch die Blockchain entstehen, sind riesig. Sie wird uns völlig neue Perspektiven für Experimente und Innovation ermöglichen. Ob diese Entwicklung gelingt, hängt in erster Linie vom Staat ab, der sein Geldmonopol aufweichen muss. Ablösungsprozesse sind bekanntlich schwer und laufen meist schmerzhaft ab. Und doch sollten Staaten jetzt auf keinen Fall die neue Technologie verteufeln und überregulieren – sie steckt noch in den Kinderschuhen und braucht eine wohlmeinende Führung und Unterstützung, um gedeihen zu können und nicht ein Anhängsel des Kapitalismus zu werden. Jetzt wird sich zeigen, wer wirklich liberal ist und Politik zu Gunsten von Dezentralisierung, Fortschritt und Bürgerfreiheit betreibt und wer auf Lobbyismus, faulende Strukturen und einen Zerfall der digitalen, zugriffsfreien Welt setzt.