Einleitung:
der schmale Pfad
zur Utopie
01
Utopien, Holismus
und eine Welt in neuem Gewand
Im Jahr 2050 werden über 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Es wird eine Epoche des globalen Optimismus sein. Die Menschen blicken stolz auf die Entwicklungen der letzten 30 Jahre zurück und sehen eine rosige Zukunft vor sich. Die Kinder von heute werden dann die Entscheidungsträger dieses
Planeten sein.
Grenzenloses Teilen, freier Zugang zu Information und die Gleichheit aller Menschen sind dann überall auf der Welt eine Selbstverständlichkeit. Der Menschheit ist es durch jahrelange Diplomatie gelungen, die drohende Katastrophe der atomaren Selbstauslöschung zu entschärfen und zu vermeiden. Es gibt keinen Krieg mehr und alle Länder und Regionen halten sich an internationale Verträge und Richtlinien. Auf der Welt herrscht Frieden, Fortschritt und Menschenrechte verbreiten sich unaufhaltsam. Unsere Energieprobleme sind durch nachhaltige Technologien gelöst und den Bedarf an Rohstoffen erfüllen wir überwiegend durch Recycling. Eine Klimakatastrophe konnte abgewendet werden, da alle ihren Lebensstil geändert haben und vielleicht auch durch geschicktes technisches Wetter-Machen (Geo-Engineering). Wir haben die meisten bedrohten Tierarten vor der Ausrottung bewahrt, die Natur breitet sich wieder aus und Aufräumschiffe haben das Meer vom Plastik gesäubert. Mobilität findet schnell, günstig, automatisch und ohne Verkehrstote statt. Waren werden stets in der effizientesten und schnellsten Weise transportiert und treffen zum rechten Zeitpunkt dort ein, wo sie benötigt werden. Menschen haben mehr Zeit für Familie und Freunde und treffen sich in lokalen Communitys. Es herrscht ein breiter Wohlstand und die Menschen verhalten sich bescheiden und grosszügig. Altersarmut und Integrationsprobleme wurden durch Zusammenarbeit, verstärktes Teilen und Grossherzigkeit gelöst. Die sozialen Sicherungssysteme konnten durch innovative Modelle vor dem Kollaps gerettet werden.
Möchten Sie, dass die Generationen nach uns in dieser Welt leben? Sie klingt doch recht vielversprechend angesichts der ganzen Untergangsszenarien, die immer wieder durch die Öffentlichkeit geistern. Doch sind solche Utopien, Illusionen und Träumereien blosse Wunschbilder ohne Bezug zur Realität? Kommt alles ganz anders und die Untergangspropheten unserer Zeit werden recht behalten?
Die Zukunft ist ungewiss, besonders wenn man sie vorhersagen will. Und Prognosen sind schwierig, weil sie die Zukunft betreffen. Die Realität wird zwischen den gewagtesten Utopien und den dunkelsten Voraussagen liegen. In welche Richtung das Pendel der Geschichte ausschlägt, wissen wir nicht. Und genau deshalb darf dieses Buch an gewissen Stellen scheitern. Es wird Dinge voraussagen, die nicht geschehen, Hoffnung schüren, die sich nicht erfüllen, und grosse Entwicklungen übersehen, die eigentlich unbedingt erwähnt werden müssten. Und weil die Zukunft immer offen ist, bleibt uns nur ein Blick auf die grossen Linien des Jetzt, auf das Bild des Moments, auf dem unsere Prognosen basieren.
Lohnt es sich denn, sich über Utopien und Szenarien zu unterhalten? Wie kann man Zukunft – etwas, was es noch gar nicht gibt – überhaupt denken? In jedem Fall muss dafür eine Vogelperspektive eingenommen werden. Es geht nicht darum, Zukunftstrends möglichst genau und umfassend abzubilden, sondern darum, die grossen Linien und die Makrotrends unserer Zukunft zu erkennen.
Wenn man sich mit Prognosen zu unserer Gesellschaft und Wirtschaft befasst, gibt es zwei Herangehensweisen:
- Analyse unserer heutigen Situation mit Berücksichtigung von Chancen und Gefahren
- Utopie von künftigen Realitäten
Sehr selten lesen wir jedoch, wie der Weg von der aktuellen Situation zur Utopie aussehen könnte. Und hier steht der Elefant im Raum, über den wir kaum sprechen. Es gibt so viele Möglichkeiten und Gründe, wieso wir es nicht in eine lebenswerte Zukunft schaffen. Die Literatur zu apokalyptischen Zukunftsbildern überwiegt bei Weitem die positiven Utopien. Viele von uns eint das Gefühl, dass wir nicht auf dem Weg in eine enkeltaugliche Zukunft sind. Doch gibt es diesen Weg zum kollektiven Glück und wer sind die entscheidenden Akteure dieser Reise?
In der Debatte über unseren künftigen gesellschaftlichen Kurs sind zwei Grundgedanken und die damit verbundenen Appelle nicht zu überhören:
- der Von-oben-nach-unten-Ansatz, der der Politik die Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft aufbürdet;
- der Von-unten-nach-oben-Ansatz, der hofft, dass sich durch Aufklärung Vernunft unter den Menschen ausbreitet und sich so ein neuer Lebensstil entwickelt, der unsere Probleme löst.
Doch sind diese beiden Annahmen gerechtfertigt und können wir darauf unsere Hoffnungen setzen? Erleben wir nicht zunehmend eine Politik, die an ihren Ansprüchen scheitert? Und scheitern wir nicht selbst täglich an den allseits bekannten Anforderungen des Zeitgeistes? Wenn dies zumindest teilweise zutrifft, sollten wir aufhören immer wieder in dieselbe Wand zu fahren und stattdessen neue Herangehensweisen aus der Mitte der Gesellschaft suchen – und genau hier setzt dieses Buch an.
Eine holistische Welt – eine polare Welt?
Wenn man strukturiert über Prognosen und das Morgen nachdenkt, muss man zuerst definieren, nach welchem Prinzip dieses sonderbare Phänomen „Zukunft“ funktioniert. Hier möchte ich mich am Holismus orientieren.
Der Begriff Holismus (griechisch hólos = ganz) bezeichnet eine philosophische Ganzheitslehre. Holistische Herangehensweisen glauben, dass alle Phänomene des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip abgeleitet werden. Alles, was passiert, was gesprochen wird, alle chemischen Stoffe und physikalischen Gesetze, alle ökonomischen und sozialen Realitäten sind nicht die Zusammensetzung ihrer Teile, sondern nur als Ganzes, von einem höheren Standpunkt aus, zu verstehen. Alles endet im Chaos und ist doch in perfekter Ordnung.
Das Leben spendende Eisen, das in unseren Adern pulsiert, verbindet uns mit den kosmischen Supernoven der Vergangenheit, in deren Feuern dieses Element entsteht. Jeder Luftzug verbindet uns mit den Algen, die vor Millionen von Jahren einfach so, nur weil sie es konnten, begannen Fotosynthese zu betreiben – ein Vorgang, der noch heute die Grundlage allen bekannten, komplexen Lebens darstellt und der unsere Lungen zu einem teilhabenden und zugleich abhängigen Splitter des Lebens auf diesem Planeten macht. Unser Verstand trifft täglich Entscheidungen, die unsere Gesellschaft vernetzen und auf unendlich verworrene Weise Vergangenheit und Zukunft in das Netzwerk des Lebens einweben. Universum, Biosphäre, Gesellschaft und Individuum sind eins und doch immer komplett anders in ihrer Erscheinung.
Man kann das Prinzip des Holismus gut am eigenen Körper illustrieren. Atome bilden Moleküle und diese wiederum Zellen. Diese Zellen sind einerseits selbstständige Systeme mit eigenen Prozessen. Trotzdem sind sie Teil eines grösseren Ganzen: des Körpers. Körper können nicht ohne ihre Unterteile existieren und sind gleichzeitig als Wirt, der alles mit allem verbindet, unabdingbar. Alles existiert in Wechselwirkung, organisiert sich auf erstaunlich stabile Weise selbst und ist sowohl Teil als auch Ganzes.
Der Holismus wird von zwei wiederkehrenden Prinzipien beherrscht:
1. der Dualität
- ja/nein
- gross/klein
- hell/dunkel
- da/weg
- schön/wüst
- messbar/nicht messbar
- oben/unten
- rechts/links
- alles/nichts
2. der Komplexität des Holistischen
Zwischen den Extremen der Dualität existiert ein unendliches Geflecht an Möglichkeiten und Szenarien. Die Welt ist sowohl dual als auch unendlich vielfältig und komplex in ihren Grautönen und Schattierungen.
Dies ist ein Text zwischen den Polen, ein Buch zwischen unbedingtem Fortschrittsglaube und aufkommender Apokalypse. Ein Buch der sich abzeichnenden Geschichte, der vergangenen Geschichten und der Wissenschaft; ein Buch der Sprache, des Bildes, des Gestern, des Morgen und des Jetzt.
Alles ist mit allem verflochten
(Dirk Gently)